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Bei Anruf Wort
Mitte der 70er Jahre stieß der Kieler Literatur-Student Michael Augustin in London auf eine Zeitungsanzeige: „Dial a poem – Ruf ein Gedicht an!“ Diese Idee begeisterte den jungen Autor so sehr, dass er nach seiner Rückkehr gemeinsam mit dem damaligen Kulturdezernenten Dieter Opper ein ähnliches Projekt, das Kieler Literaturtelefon, das erste in Deutschland, ins Leben rief. „Technisch war das damals natürlich noch nicht so ausgereift, die Texte wurden einfach auf einen Anrufbeantworter gesprochen“, erinnert sich Augustin, von dem der allererste Beitrag für das Kieler Literaturtelefon im März 1978 stammte. Später traf er auch den Gründer des weltweit ersten Literaturtelefons in den USA, John Giorno, der zum Kreis um Andy Warhol gehörte.
Kiel war somit vor 46 Jahren die erste deutsche Stadt, die ein Literaturtelefon als kulturelles Angebot für literaturinteressierte Bürger*innen installierte. Viele Städte folgten, die meisten gaben aber spätestens dann auf, als die Telekom die Literaturtelefone aus ihrem Ansageprogramm heraus nahm, weil sie nicht genügend Geld einbrachten. Die Landeshauptstadt Kiel wollte ihren Bürger*innen dieses Kulturprogramm per Telefon jedoch erhalten. Seit dem Oktober 2001 betrieb das Kieler Kulturamt deshalb das Literaturtelefon in Eigeninititiative. Die Ziele des Literaturtelefons damals wie heute: Förderung von Autor*innen durch Bekanntmachung ihrer Bücher, Förderung des Lesens durch Schaffung von Leseanreizen.
Das Literaturtelefon bot und bietet ganz private Autor*innenlesungen, gemütlich auf der eigenen Couch zu Hause, auf der Bank im Park oder sogar in der Badewanne. Nachwuchsautor*innen stellen sich einem größeren Publikum vor, bekannte Schriftsteller*innen präsentieren ihre neuesten Werke. Fast alle lebenden deutschsprachigen Autor*innen von Rang und Namen haben dem Kieler Literaturtelefon schon ihre Stimme geliehen, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz, Peter Härtling, Sarah Kirsch und Hans-Jürgen Heise.
Bislang bot das erste – und mittlerweile eines der letzten – deutschsprachige Literaturtelefon unter der Rufnummer 0431/901-8888 bei Anruf Wort. Im wöchentlichen Wechsel konnten Anrufer*innen Ausschnitte aus Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten hören. Die Aufnahmen waren jeweils ca. fünf Minuten lang und konnten rund um die Uhr abgehört werden. Ein Anruf kostete nur den üblichen Tarif für ein Ortsgespräch.
16 Jahre wurde das Literaturtelefon von der Mitarbeiterin des Kieler Amts für Kultur und Weiterbildung, Angelika Stargardt, betreut. Nun wird das altmodische Telefon nicht etwa gekappt, sondern durch ein neues Medium ergänzt, denn heutzutage tummelt sich die gesprochene Literatur im Internet. War das Kieler Literaturtelefon 1978 das erste am Telefonhörer, so ist es seit 2007 eines der ersten im Internet.
Die Kieler Autoren und Literatur-Event-Veranstalter Björn Högsdal und Patrick Kruse, die unter dem Label assembleART.com firmieren und die unter anderem das Format „Poetry Slam“ in Kiel und darüber hinaus etabliert haben, sowie der Kieler Journalist, Autor und Literatur-Blogger Jörg Meyer treten als Triumvirat an (seit 2015 nur noch Jörg Meyer). Sie wollen das Literaturtelefon in eine neue multimediale und global vernetzte Zukunft führen. Über die Möglichkeiten des Internet wollen die drei vor allem junge Hörerschaften für das gesprochene Wort gewinnen, jene, die über die zwei Kupferdrähte der Telekom nicht nur telefonieren, sondern sich weltweit ins Netz klicken. Dabei sollen diejenigen, die sich nach wie vor über Dichtung am Telefon freuen, nicht vergessen werden. Seit April 2007 ist das Kieler Literaturtelefon also wie gewohnt unter der Rufnummer 0431/901-8888 und zusätzlich im Internet unter www.literaturtelefon-online.de erreichbar – allerdings wechseln die Beiträge nicht mehr im wöchentlichen, sondern 14-tägigen Rhythmus.
Ein Mehrwert, der in Zeiten des Internet nicht mal mehr kostet. Das neue Literatur-Telefon-Trio bietet für das gleiche Geld (rund 2.000 Euro pro Jahr für Autor*innen-Honorare und laufende Kosten, zur Verfügung gestellt vom Amt für Kultur und Weiterbildung der Landeshauptstadt Kiel – Dank dafür!) eine weltweite Erreichbarkeit der Lesungen des Kieler Literaturtelefons – nebst Vernetzung mit der Web 2.0-Gemeinde und einem Archiv, in dem die Lesungen der Vergangenheit auch über den Telefon-Auftritt hinaus hörbar bleiben.
Seit das Internet nicht mehr nur ein Empfangs-Medium ist, sondern Empfänger*innen zu potenziellen Sender*innen macht (Facebook.com und Youtube.com sind dafür nur einige der vielen Beispiele), ist es das universelle Medium für das urdemokratische „Jeder kann ein Sender sein“. Die entsprechenden Portale boomen. Das Internet wird das Telefon als Medium der Sprach-Verbreitung ablösen.
Literatur war per Telefon erstmals 1978 „on line“, jetzt wird sie es via Internet noch mehr, nämlich weltumspannend. Das Literaturtelefon ist tot? Nein: Es lebe das Literaturtelefon!
Das Literaturtelefon verdankt viele seiner Aufnahmen Lesungen von Autor*innen im Literaturhaus Schleswig-Holstein. An dieser Stelle bedanken sich die Betreiber des Literaturtelefons für die gute und nun schon über Jahre andauernde Zusammenarbeit zweier Kieler Institutionen, die sich für die Literatur in und aus Schleswig-Holstein – und darüber hinaus – engagieren.